Parallelveranstaltungen…

… eines Wochenendes.

I.) Am Freitag, den 19. November wurde mein Vater 77 Jahre alt – und ich fuhr am Samstag hin. Auf keinen Fall wollte ich den Rest der Familie, die nicht die meinige ist, sehen. Er ist seit 38 Jahren das zweite Mal verheiratet – mehr Jahre als meine Mutter alt wurde. Und seitdem wohnt er in einem Haus am Kleinstadtrand, weg von dem Leben, das er sich bis dahin aufgebaut hatte.

Ich war seinerzeit neunzehn und blieb in Berlin, völlig damit ausgelastet meinem eigenen Leben einen Weg zu geben.

Mein Vater hatte seinen Weg abgebrochen, einen neuen angefangen – aber wo führte der hin? Durch sehr viel Leid und Verzweiflung, durch Alkohol, miese unterbezahlte Jobs, Selbstverleugnung, Einsamkeit… eingebettet in eine scheinbar heile, bürgerliche Welt. Eine Welt, wo jeder darauf bedacht ist bloß nicht aufzufallen und dem Bild zu entsprechen, welches Nachbarn und Familie von einem haben wollen.

Ende 1956 war mein Vater aus der DDR nach West-Berlin geflüchtet, wo sein Traum von Freiheit zu Hause zu sein schien. Meine Mutter folgte ihm drei Wochen später, mit mir, meinem kleinen Bruder und ein wenig Handgepäck. Es folgten zwei Jahre wohnen in Flüchtlingslagern – ab und zu amerikanische Care-Pakete. Ich erinnere mich an Chesterkäse und Milchpulver. Dann eine Flüchtlingswohnung – drei Zimmer für drei Familien, ein Bad, eine Küche. Als mein Vater einen Job bei der BVG bekam, konnten sie sich eine eigene Wohnung mieten. Dann ging es bis 1970 stetig bergan – angekommen im Traum aus Freiheit und Konsum – der alle zwei Jahre durch einen Urlaub nach Italien oder Österreich gekrönt wurde.

Im März 1970 der abrupte Bruch: meine Mutter stirbt unerwartet im Alter von 36 Jahren.

Mein Vater sucht eine Frau und findet sie zwei Jahre später, die ihn – obwohl vereinbart, dass sie mit ihrer Tochter nach Berlin zieht – doch dazu bringt in die Kleinstadt zu ziehen. Von einem eigenen Haus hatte er immer geträumt…

Aber alles kam so anders – es lief weder beruflich noch zwischenmenschlich gut. Sie arrangierten sich und blieben wider besseren Wissens zusammen.

In den neunziger Jahren wurde sein Augenlicht immer schlechter, Diagnose: Retinitis Pigmentosa, eine unheilbare Augenkrankheit. Jetzt sieht er kaum noch etwas und ist seit langem in seinem Aktionsradius stark eingeschränkt. Hören geht auch nur noch mit Gerät. Vor mehr als zwei Jahren wird festgestellt, dass er Demenz hat. Das kann nicht geheilt werden und alle Hoffnung, es medikamentös aufzuhalten oder hinauszuzögern, hilft nur der Pharmaindustrie.

Für mich stellt es sich so dar, dass mein Vater sich völlig zurück zog, weil er mit dem Verlauf seines Lebens haderte, weil er dem nichts mehr entgegensetzen konnte. Aber eben auch nicht mehr die Kraft hatte, etwas Neues zu beginnen. Und auf völlig absurde Weise klammert und fixiert er sich auf die Frau und die Umgebung, die am meisten zu seinem Elend beitrugen.

Ich fuhr mit gemischten Gefühlen hin, denn die Statusberichte von ihr hören sich meist alles andere als gut an. Doch mein persönlicher Eindruck war positiver als erwartet. Er sah besser aus als vor einem Jahr.
Er ist meist abwesend, ja. Er redet kaum noch und wenn, dann nur wenige Worte, ja. Er hat stark abgebaut, sieht eingefallen und zerbrechlich aus, ja. Aber ich bin davon überzeugt, dass er mehr von seinem Umfeld mitbekommt als andere annehmen, mehr als er sich artikulieren kann. Und es tut mir in der Seele weh, dass er nicht mehr der Vater ist, den ich als kleines Mädchen so verehrte, so anhimmelte. Ich habe ihn immer noch lieb.

Ich sehe sehr wohl, dass es für mich relativ leicht ist seinen Zustand zu sehen, zu ertragen, wo ich ihn nur wenige Male im Jahr erlebe. Ich verstehe auch, dass seine Frau an so manchen Tagen die Nerven und die Geduld verliert. Dass sie es auf sich nimmt und nicht übers Herz bringt, ihn in ein Heim zu geben, obwohl es ihr gesundheitlich selber schlecht geht – das rechne ich ihr hoch an.

Für mich liegt die Ironie des Schicksals dadrin, dass sie sich über sein Schweigen, sein Nicht-Reden beklagt. Dabei hat sie jahrzehntelang alles getan, um immer unterwegs zu sein, sich mit Hausarbeit auszuklinken oder mit Nachbarn zu ratschen… Es gab sicherlich kaum tiefe, lange Gespräche zwischen den beiden, die sie nun schmerzlich vermissen müsste. Also kommt es mir vor wie ein Klagegesang, der mehr mit Selbstmitleid als etwas anderem zu tun hat.

Ein wunderbarer Spiegel, wenn ich gewillt bin mein eigenes Selbstmitleid zu sehen.

II.) Auf der Rückfahrt fuhren wir in Wolfsburg vorbei, weil dort an diesem Wochenende eine Ausstellung mit Werken von Alberto Giacometti (1901 – 1966) eröffnet wurde. Ein aus der italienischen Schweiz stammender Künstler, der sich hauptsächlich mit dem menschlichen Körper auseinander setzte in Form von Skulpturen, die immer abstrakter wurden.

Eine schöne Ausstellung, teils sehr schön in Szene gesetzt. Drei oder vier Skulpturen wurden in einzelne weiße Räume oder große Nischen gestellt, umgeben von einem weichen, dennoch gleißendem Licht, welches auf mich wirkte wie weißes Rauschen. Der Raum war so raffiniert ausgeleuchtet und gestaltet, dass man weder das Ende der hinteren Wand, noch den Übergang zu Decke und Boden erkennen konnte.

Nur man selbst, die Figur und dieses unendliche Weiß waren präsent…

Aber eben leider nicht wirklich, denn es waren viele gekommen an diesem Sonntag Mittag. All die intellektuellen Köpfe, wohlsituiert, wohlgeordnet, mit viel Kunstverstand. So zumindest gaben sie sich den Anschein.
Diese Präsenz der Leute trübte den Genuß der Ausstellung ein wenig – konnte aber der Unendlichkeit des weißen Seins nichts anhaben.

0 thoughts on “Parallelveranstaltungen…

  1. Was bleibt ist Sprachlosigkeit. Sowohl in der Szene eins, wie in der Szene zwei.

    Veranstaltungen an Grenzgebieten lassen uns zweifeln. An der eigenen Art der Lebensgestaltung und an allzu gern geschluckten Wahrheiten, die man sich oft immer wieder schöntrinkt. Die Wahrheiten der anderen sind nur ganz selten die eigenen und können darum von außen, von uns ganz gut erfaßt werden, schließlich müssen unsere eigenen glühenden Kohlen nicht angerührt werden.

    Vielleicht aber sind manche nicht so stark, können kein Künstlerleben führen, kein abstraktes, können nichtmal für sich selbst etwas bedeuten, können das Licht nicht weitertragen.

    Sie bewahren sich ihre Würde durch Sprachlosigkeit. Denn wo es nichts zu sagen gibt gibt es nichts mehr zu sagen.

    Der Künstler bewahrt seine Würde indem er die anderen sprachlos, atemlos macht.

    Ich wäre so gern ein Künstler, aber ich bin am Ende nur sprachlos. Vielleicht sind wir alle Künstler, aber unsere Kunst reicht nicht lange. Wir enden zu schnell in der Sprachlosigkeit. Sind länger da als es etwas zu tun, als es etwas zu sagen gibt.

    Ich bin bin froh, dass Du so schöne Worte für Deinen Vater findest. Ich bin froh, dass sein Zauber sich in Deinem Herzen erhalten hat. Und Du eben nicht sprachlos bist …

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